Gegen die Natur

von | Okt 23, 2024

Wir haben viele Gründe, gegen die Natur zu sein. Nicht gegen unsere natürliche Umwelt, gegen Wiesen und Felder, Vögel und Eichhörnchen. Problematisch sind die Bilder, die wir uns von der Natur machen, um damit unsere gesellschaftlichen Ordnungen und Normen zu rechtfertigen.

Der Missbrauch von Naturbegriffen

Lange Zeit haben Vergleiche mit der Natur zu Diskriminierung, Ausbeutung und Unterdrückung geführt. Frauen wurden vom gesellschaftlichen Leben mit dem Argument ausgeschlossen, sie seien schwach, sensibel und „von Natur aus“ für Küche und Kinder gemacht. Queere Menschen hat man als „widernatürlich“ verfolgt, weil ihre Identität und Sexualität angeblich nicht der natürlichen Ordnung entspricht. Und vom Sozialdarwinismus bis in die letzte Stammtischdiskussion kennen wir die falsche These, der Mensch sei, von Natur aus egoistisch und soziales Verhalten eine gut gemeinte moralische Fiktion.

Naturbilder haben eine bisweilen toxische Wirkungen auf die Gesellschaft, aber unsere gesellschaftlich gewachsenen Überzeugungen wirken auch auf die Natur zurück – in fataler Weise, wie wir heute überdeutlich sehen. Dem alten (philosophischen) Denkmodell von Subjekt-Objekt folgend, haben wir unsere Zivilisation als Herrschaft definiert und Natur zur kostenlos ausgebeutete Ressource und zum Objekt unserer Profiinteressen gemacht.

Wissenschaftsgeschichte als Kritik

Wenn wir die ökologische Katastrophe unserer Zeit überleben wollen, brauchen wir nicht noch mehr überhebliche Fortschrittsgeschichten und den Glauben, alle unsere Probleme ließen sich mit noch mehr Technik und noch mehr Herrschaft lösen. Nein, wir müssen unseren Blick auf die Natur und die zugehörigen Bilder in unseren Köpfen verändern.

Mit ihrem Buch Gegen die Natur gibt die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston dazu einen wichtigen Anstoß. Sie kritisiert darin eben die beschriebene Tendenz, moralische oder soziale Normen mit „Natur“ zu rechtfertigen.

Es ist ein kritisches, aber in erster Linie auch ein analytisches Buch, das zu verstehen versucht, warum „die Natur als gigantische Echokammer für die von Menschen gemachten moralischen Ordnungen herhalten“ muss. (Daston 2018, 9)

Die astronomische Uhr im Straßburger Münster

Drei Bedeutungsebenen des Naturbegriffs

Es ist nicht einfach, den Naturbegriff zu fassen und das auch, weil er so viele „Bedeutungsschichten“ umfasst. Daston unterscheidet zur besseren Orientierung drei:

Spezifische Naturen: Das Wort Natur hat seinen Ursprung in der Verschmelzung der Bedeutungen des altgriechischen Physis (etymologische Herkunft vom Verb für: wachsen) mit dem lateinischen Natura (etymologische Herkunft vom Verb für: geboren werden). Die Idee der spezifischen Natur geht also davon aus, dass es „natürlich“ gewachsene Unterschiede und spezifische Eigenheiten gibt, was dann unter anderem zu Rassismus und Ausgrenzung führt. (Vgl. Daston 2018, 15-27)

Lokale Naturen: Natur ist immer auch ein lokaler und territorialer Begriff. Schon in der Antike empfiehlt Hippokrates bei der ärztlichen Behandlung, die regionalen Bedingungen einzubeziehen, unter denen die Menschen leben. Auch die moderne Wissenschaft der Ökologie versteht mit ihren Nischen und Lebensräumen Natur als etwas Lokales. (Vgl. Daston 2018, 27-37)

Allgemeine Naturgesetze: Am stärksten kommt die Beziehung zwischen Natur und Ordnung in der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts zum Tragen. Interessant ist, dass hier oft Technik als Bild für die Natur dient. Die Idee von Gott als Uhrmacher und Schöpfer einer perfekt eingerichteten Ordnung geht auf den englischen Naturphilosophen und Erfinder Robert Boyle (1627-1691) zurück, der von der mechanischen Uhr im Straßburger Münster so begeistert war, dass er sie immer wieder als Analogie verwendete. (Vgl. Daston 2018, 37-49)

Der Mensch als mimetisches Wesen

Lorraine Daston gelingt es auf nur 108 Seiten, die Kultur- und Ideengeschichte unseres Naturverständnisses zu umreißen und damit eine Grundlage für die Kritik am Missbrauch des Naturbegriffs für gesellschaftliche Diskriminierung, Ausbeutung und Unterdrückung zu schaffen.

Aber woher kommt nun das Bedürfnis, sich auf die Natur zu berufen? Für Daston liegt die Erklärung „in dem unbändigen Drang zum Abbilden, das Unsichtbare sichtbar zu machen, immaterielle Ideen konkret und berührbar werden zu lassen.“ (Daston 2018, 76) Der Mensch brauche Bilder, er sei ein mimetisches, abbildendes Wesen.

Und die Natur bietet uns viele dieser konkreten und für alle erfahrbaren Bilder an, sie „breitet so viele Arten der Ordnung vor uns aus, dass sie eine verlockende Ressource darstellt, um daraus jede einzelne der von Menschen erdachten Ordnungen abzuleiten“, so Daston. (Daston 2018, 80)

Ein Porträt der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston

Naturbilder im Zeichen der Klimakrise?

Gegen die Natur ist kein Buch, das aus feministischer oder sozialkritischer Perspektive eine kritische Gegengeschichte erzählen will, die das Unrecht von Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung im Namen der Natur nachzeichnet.

Es handelt sich um eine unaufgeregte, analytische Wissenschaftsgeschichte, die das Bedürfnis des Menschen nach Ordnung und den dazugehörigen Bildern zu verstehen versucht. Ob Daston mit der großen anthropologischen Frage nach dem Menschen als mimetischem Wesen im Hinterkopf nicht doch übersieht, wie problematische Naturbilder historisch genau gewachsen sind, sei dahingestellt.

Für den Nachhaltigkeitsdiskurs ist ein Gewinn, dass Daston hier die Entwicklung unseres Naturverständnisses nachzeichnet und einordnet und das knapp und gut lesbar. Das Buch ist 2018 erschienen, dem großen Jahr von Fridays for Future. Zumindest ein Ausblick zu der Frage, wie sich unsere Naturbilder im Zeichen der Klimakrise verändert haben, wäre wichtig und passend gewesen.

Bruno Latour, der wie Daston aus der Wissenschaftsgeschichte kommt, hat sich diese Frage unter einem noch stärker philosophischen Vorzeichen in Kampf um Gaia und dem Parlament der Dinge gestellt und daraus klare politische Schlüsse gezogen.

Sicher ist: Wir werden die großen Krisen unserer Zeit und die Nachhaltigkeitstransformation nicht angehen können, wenn wir unser Denken nicht verändern. Genau dafür braucht es neben Politik, Technik und allerlei Innovationen auch die analytische und historische Tiefenschärfe von Philosophie und Wissenschaftsgeschichte.

Lorraine Daston, Gegen die Natur, Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol,

2018, 107 Seiten, Matthes und Seitz, Berlin.

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