Der unscheinbare Schleimpilz Physarum polycephalum ist ein hervorragender Verkehrsplaner. Wissenschaftler haben seine Fähigkeiten 2010 getestet, die Aufgabe: Das Verkehrsnetz um Tokio zu planen. Haferflocken, die der Pilz besonders mag, waren dabei die Städte der Metropolregion und durch Lichtkegel wurden natürliche Hindernisse wie Berge simuliert. Der hungrige Pilz entwickelte durch sein Wachstum in kürzester Zeit ein sehr effizientes Netzwerk. Für die Infrastrukturplanung kann man also leistungsfähige Computermodelle einsetzen oder eben Schleimpilze.
Anthropozentrismus
Ein solches Kräftemessen zwischen natürlicher und technischer Intelligenz ist mehr als bloße Anekdote. In seinem neuen Buch Ways of Being nutzt der Künstler und Autor James Bridle sie, um deutlich zu machen, wie viel wir von natürlichen Organismen und Netzwerken lernen können, wenn wir ihre Intelligenz ernst nehmen. Gerade angesichts des gegenwärtigen KI-Hypes sind wir ständig mit diesem Kräftemessen zwischen natürlicher und technischer Intelligenz konfrontiert. Etwas ungesehen im Schatten dieser euphorisch geführten Debatte bleibt dabei immer die Frage, was eigentlich unter Intelligenz zu verstehen ist.
Bei den meisten Vergleichen dient eben menschliche Intelligenz als unhinterfragter Maßstab für die Bewertung und das führt oft zur Abwertung anderer Lebewesen. Die große Frage nach dem Intelligenzbegriff ist nicht nur in akademischen Seminarräumen zuhause, sondern für unsere heutige Lage von besonderer Bedeutung. Klimawandel, Artensterben und Umweltzerstörung zeigen deutlich, was passiert, wenn man den Menschen und seine Intelligenz zum moralischen Maßstab erhebt.
Geschichten und Nischen
Jedes Kapitel des Buches erzählt eine Gegengeschichte zu diesem „Anthropozentrismus“. Wir lernen, wie Intelligenztests an Affen nach einem abstrakten, kognitiven Verständnis von Intelligenz modelliert wurden und dabei die umweltspezifischen Anpassungen verschiedener Affenarten übersehen worden sind. Gibbons haben diese Tests nämlich deshalb immer schlecht bestanden, weil sie weniger fingerfertig sind als Schimpansen. Als Baumbewohner ist ihre Intelligenz vertikal ausgerichtet und ihre Hände sind für das Klettern gemacht.
Über eine romantische Verklärung der Natur oder eine simple Dichotomie von Natur vs. Technik ist Bridle zum Glück theoretisch hinaus. Er entwirft vielmehr eine hybride Ökologie, die natürliche, technische und menschliche Formen von Intelligenz einbezieht und zueinander in Beziehung setzt. Das macht sein Buch auch für die akademische Forschung im Bereich Medienökologie oder den Science and Technology Studies interessant, deren Vertreter:innen die abstrakten Trennungen von Natur / Mensch / Technik kritisch hinterfragen.
Eine neue Ökologie der Technik
Vor einigen Jahren hat Bridle mit The New Dark Age ein eher dystopisches Bild der digitalen Welt gezeichnet. In seinem neuen Buch ist die Dunkelheit weitestgehend einer bisweilen etwas esoterisch wirkenden Euphorie und einem Staunen über die Klugheit natürlicher Organismen und Systeme gewichen. Dabei übersieht Bridle an einigen Stellen, dass viele Unterdrückungsmechanismen unserer digitalen Kultur eben durch die Kybernetik vorgedacht worden sind, die sich als transdisziplinäre Kontroll- und Steuerungswissenschaft wie Bridle für die Analogien zwischen Mensch, Natur und Technik begeistern konnte.
Der italienische Philosoph Matteo Pasquinelli hat in seinem neuen Buch gezeigt, wie die Kybernetik unser Verständnis von Intelligenz nach dem Maß technischer Systeme geformt hat. Für Pasquinelli ist der Coup der KI aber nicht vorrangig die Nachbildung natürlicher Intelligenz. Die Kybernetik betrachtet Natur bereits mit einem technischen Blick und formt damit eine rationalistische Vorstellung von Intelligenz, die es dann leicht macht, natürliche und (zwischen)menschliche Fähigkeiten und Intelligenzleistungen einem technischen Diktat von Automatisierung und Kontrolle zu unterwerfen.
Corporate AI
James Bridle sieht die Gefahren von KI eher in der Zurichtung von KI zu kapitalistischen Zwecken. Aus seiner Sicht bräuchte es eine „Ökologie des Technischen“, also eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen Umwelten, in denen KI entwickelt wird. Eine sogenannte „Corporate AI“, die nur unternehmerischen Interessen der Herrschaft, Ausbeutung und Kontrolle gehorcht, gilt es für Bridle zu verhindern. Das mag angenehm kritisch klingen, ist aber zu kurz – weil zu undialektisch – gedacht. Denn es gibt ja zahlreiche Unternehmen, die KI ethisch und verantwortungsbewusst nutzen wollen.
Was daran gut oder schlecht ist, gilt es kritisch zu unterscheiden, soweit das Mitten in einem technischen Entwicklungsprozess überhaupt möglich ist. Gut ist in jedem Fall, dass sich die EU nicht entschieden hat zu warten. Mit ihrem AI Act hat sie einen wichtigen Schritt getan hat, um eine rechtliche und politische Umgebung für die KI-Entwicklung zu schaffen.
Essayistik und Optimismus
Trotz dieser an einigen Stellen etwas holzschnittartigen Argumentation kann man von diesem Buch eine Menge lernen: Nicht nur Anekdotisches über die Erinnerungsfähigkeit von Pflanzen oder die vielfältigen Skills des Oktopus. Die Herausforderung, der sich Bridle in jedem Kapitel immer wieder aufs Neue stellt, besteht darin, die Perspektive zu wechseln und von einem anthropozentrischen Blick auf die Welt abzurücken.
James Bridle denkt essayistisch, mit dem explorativen Gestus eines technikaffinen Künstlers, der er ist. Manche Naivitäten oder schematische Argumente kann man diesem Buch verzeihen, weil es sich traut, große Fragen zu stellen und dabei trotzdem das Kleine und Konkrete im Blick zu behalten, ganz wie die Ökologie die großen Systeme ebenso im Blick hat, wie die speziellen Nischen.
Natürlich kann man Bridles staunende Begeisterung als esoterischen Ausdruck eines digitalitätsmüden Zeitgeistes belächeln. Von seiner Begeisterungsfähigkeit werden wir aber eine gute Portion brauchen, für ein anderes, nachhaltiges Denken, das weit über den Status Quo hinaus in die Zukunft reicht.
Ways of Being. Animals, Plants, Machines: The Search for a Planetary Intelligence
2022, Softcover, 384 Seiten, Penguin Random House.