Die Entdeckung der Nachhaltigkeit

von | Mrz 20, 2024

Unsere Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltiger zu machen, ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Der Journalist Ulrich Grober erzählt in seinem Buch facettenreich die Geschichte des Nachhaltigkeitsbegriffs und rekonstruiert Ideen und Konzepte nachhaltigen Handelns.

Im 17. Jahrhundert erlebt Sachsen ein bemerkenswertes Wirtschaftswunder. Im Erzgebirge hat der Silberbergbau seinen Höhepunkt erreicht. Der wirtschaftliche Boom zieht allerdings ein ökologisches Problem nach sich. Holz wird knapp, weil es an vielen Stellen im Bergbau benötigt wird. Die Bergleute stützen damit die Schächte und Stollen ab und die Köhler machen daraus Holzkohle, um die Hütten zu befeuern, die aus dem Erz das Silber schmelzen. Das Erzgebirge ist damals neben England eine der größten Bergbauregionen in Europa. Das macht den nachwachsenden Rohstoff Holz zur Mangelware. Die Landschaft rund um Freiberg ist durch den Raubbau beinahe entwaldet.

Ressourcenmangel

Um diese Holznot zu bekämpfen, wird Hans Carl von Carlowitz zum neuen Leiter des sächsischen Oberbergamts in Freiberg berufen. Carlowitz ist eine vielseitige Persönlichkeit. Aus seiner Jugend kennt er die Arbeit der Köhler, Schmelzer und Flösser in der Region. Als weltgewandter Adeliger hat er eine große Europareise unternommen und unter anderem in Frankreich und England Ideen für eine Reform der Forstwirtschaft  gesammelt. Aus seinem Wissen und seiner Erfahrung macht der 1713 ein Buch mit dem Titel Sylvicultura oeconomica, was sich als „haushälterischen Waldbau“ (S. 118) übersetzen lässt. Darin skizziert Carlowitz eine Reihe innovativer Ideen: energiesparende Schmelzöfen, eine bessere Wärmedämmung im Hausbau oder Torf als Brennstoffalternative.

Aber Einsparung und Optimierung reichen für Carlowitz nicht aus. Um die Holznot zu lösen, muss man in die Zukunft denken. Die Formel, die er dafür findet, ist einfach und einleuchtend: Man darf nicht mehr Holz schlagen, als in Zukunft auch nachwachsen kann. Carlowitz bezeichnet dies als die „continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung“ der Wälder und erfindet damit einen Begriff, der uns heute umso mehr beschäftigt: Nachhaltigkeit.

Begriffsgeschichten

Begriffe haben eine Geschichte. Sie sind keine neutralen Bezeichnungen für Dinge oder Sachverhalte, sondern sie führen Ideen und Erfahrungen mit sich und sind durch die konkreten gesellschaftlichen und politischen Kontexte geprägt, aus denen sie stammen. Der Journalist Ulrich Grober macht sich in seinem Buch Die Entdeckung der Nachhaltigkeit daran, in diesem Sinne eine Kulturgeschichte des Nachhaltigkeitsbegriffs zu erzählen. Nachhaltigkeit, so schreibt er, sei „weder Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock“, sondern, „unser ursprünglichstes Weltkulturerbe“(S. 13).

Die Geschichte der Nachhaltigkeit erzählt er in Geschichten. Die eingangs erzählte führt in die sächsischen Wäldern, eine weitere nach Umbrien, zu Franz von Assisi und seiner Theologie der Armut und Demut, die den Menschen nicht als Herrscher, sondern als Teil der Schöpfung versteht. In einem anderen Kapitel versammelt Grober Gedanken und Bedeutungen von Nachhaltigkeit rund um das Bild der Blue Marbel. Die Apollo 17 Mission hat 1972 mit diesem Bild für einen radikalen Perspektivwechsel gesorgt. Zum ersten Mal sah man die Erde als blauer einsamer Planet im All und das schärft das Bewusstsein für die Fragilität unseres Planeten. Im gleichen Jahr veröffentlicht der Club of Rome seinen Bericht über die Grenzen des Wachstums. 

Nachhaltigkeit ist auch eine Geschichte der internationalen Konferenzen und Gipfeltreffen. Auch hier richtet Grober den Blick nicht so sehr auf Jahreszahlen und politische Persönlichkeiten, sondern sondiert die gesellschaftlichen Kontexte, aus denen der Brundtland-Bericht oder die Agenda 2030 des Erdgipfels von Rio hervorgegangen sind. Das Buch ist 2010 erschienen, also lange vor dem jüngsten Meilenstein, der Pariser Klimakonferenz 2016, deren Ziele die heutigen Nachhaltigkeitsdebatte prägen.

Eine überwölbende Idee

Dass Ulrich Grober sich neben den „Urtexten“ der Nachhaltigkeit bei Carlowitz, Spinoza, Franz von Assisi und anderen stark auf die 60er und 70er Jahre konzentriert, ist nicht seiner eigenen autobiographischen Nostalgie geschuldet, auch wenn Grober als 68er seine persönlichen Erfahrungen an vielen Stellen einfließen lässt. Der Ökologiehistoriker Joachim Radkau hat die Jahre um 1970 als Beginn einer weltweiten „ökologischen Revolution“ (Radkau 2011, 124-165) bezeichnet, und Grober unterstreicht, dass das kulturelle und politische Klima einer Zeit darüber entscheidet, ob eine Gesellschaft in die Zukunft denken kann:

„Wir haben keine große Erzählung mehr, keine Visionen, die uns beflügeln und antreiben. Dieses Vakuum ist nicht gut. Um die Klimakatastrophe noch im letzten Moment nabzubremsen, sagen uns die Experten, bräuchten wir ein ‘Apollo-Projekt’: eine überwölbende Idee, die in kürzester Zeit große Potenzial aktiviert für etwas, das wir machen, koste es, was es wolle.“ (S. 24)

Dieses Buch ist nicht nur am Schreibtisch entstanden, sondern profitiert sehr davon, dass Grober die Orte des Nachhaltigkeitsdenkens von Freiberg bis nach Umbrien teilweise selbst besucht hat und sie anschaulich beschreibt. So global der Nachhaltigkeitsdiskurs heute ist, an diesen Stellen wird er wieder ganz lokal und auf die Umwelt bezogen, in der sich Nachhaltigkeitsdenken entwickelt hat.

Gedankengänge

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit ist eine Kulturgeschichte im besten Sinne, die nicht linear und fortschrittsgläubig erzählt wird, sondern ihr Thema in den einzelnen Kapitel essayistisch umkreist und dadurch in immer neuen und überraschenden Facetten erscheinen lässt. Die intellektuelle Qualität dieses Buches liegt darin, philosophische Gedankengänge in ihrem historischen Kontext zu verorten und ohne akademische Umständlichkeiten oder einen gezwungenen Aktualitätsbezug konzise auf den Punkt zu bringen. Durch Grobers essayistische Prägnanz sammelt man beim Lesen quasi im Vorübergehen viele wichtige Impulse – von der pantheistischen Naturphilosophie Baruch de Spionzas (1632-1677) bis zur sogenannten Gaia-Hypothese von James Lovelock und Lynn Margulies .

Der kulturhistorische und ideengeschichtliche Hintergrund, den dieses Buch so unterhaltsam und gut lesbar rekonstruiert, ist gerade heute wichtig, damit Nachhaltigkeit kein Buzzwort bleibt, sondern darüber hinaus seine politische und gesellschaftliche Wirkung entfalten kann.

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